Das Projekt „Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Bildung“ wird an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW im Rahmen von fünf Arbeitspaketen durchgeführt. Es bewegt sich mit seinen Fragestellungen im Schnittbereich der Themen berufliche Bildung, Behinderung und Digitalisierung.

Im ersten Arbeitspaket ging es um die Sichtweise von Lernenden mit Behinderungen sowie von Fachpersonen aus dem Feld der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Geführt wurden Interviews mit 27 Lernenden (im Alter zwischen 16 und 43 Jahren, mit verschiedenen Arten der Beeinträchtigung, diverse Ausbildungsniveaus und Berufsfelder, aus der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin) und 10 Fachpersonen. Im Zentrum standen die folgenden Fragen:  Was erleichtert oder behindert die digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung? Welche Dimensionen umfasst die digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen? Im Rahmen der Untersuchung wurden mehrere Phänomene identifiziert, die für digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung zentral sind. Vier davon werden im Folgenden etwas näher beleuchtet.

Ein zentrales Thema in den Interviews war Zugänglichkeit (Barrierefreiheit, Accessiblity) mit Fokus auf digitale Aspekte in den Bildungsorganisationen und oft auch im Zusammenhang mit dem Beruf oder der Ausbildungsstelle.

Digitale Zugänglichkeit wird von den Befragten überwiegend im Zusammenhang mit eingesetzter Software und digitalen Dokumenten sowie mit spezifischen Anwendungen oder Dateiformaten thematisiert. Viele Lernende mit Behinderungen erwähnen explizit, dass die digitale Verfügbarkeit der Lerninhalte eine grosse Verbesserung der Zugänglichkeit bedeutet.

” Gewisse Barrieren überwinden zu können, wo sie halt mit ihrer Beeinträchtigung einfach Mühe haben. Also sprich […] ich habe eine Abschlussprüfung, diese Abschlussprüfung muss ich auf Papier schreiben, ich habe motorische Schwierigkeiten, und ich kann das auf einem Computer machen und habe die gleiche Abschlussprüfung. Habe ich doch meine Leistung erbringen können und zeigen, was ich eigentlich kann und was auf Papier jetzt einfach wegen der Motorik, einfach nicht funktioniert. Als einfaches Beispiel jetzt mal. Dort haben wir sicher viel Potential.” (23:11 ¶ 81 – 83 Bereichsleitung Berufliche Integration bei Stiftung). 

Die augenfälligsten Unterschiede zwischen den befragten Lernenden bestehen sodann in deren unterschiedlichen Arten und Ausprägungen, Behinderungen zu erfahren. Was für eine Person als Barriere oder als zugänglich wahrgenommen wird, ist wesentlich von der jeweiligen Beeinträchtigung abhängig.

“Sie haben vorher noch Lernplattformen erwähnt. Wir haben eine Lernplattform. Und dort, ja, die ist jetzt nicht irgendwie speziell barrierefrei. Teils sind die Inhalte navigierbar und teilweise auch wieder nicht. Wir mussten dort […] zum Beispiel unseren Praktikumsbetrieb präsentieren. Da hat es Sachen gegeben, die funktioniert haben und andere wieder nicht.” (1:82 ¶ 95 Lernender mit einer Sehbeeinträchtigung).


 Besser wäre “in einer spezialisierten Organisation”, oder? Denn Stiftung bezeichnet die Rechtsform

Wenn Du einverstanden bist, kannst du das noch anpassen.

 Ich würde statt unserer internen Bezeichnungen, bei Expert:innen den Tätigkeitsbereich nennen und bei den Betroffenen die Behinderungsart und Bildungsrichtung.

Die Analyse der Interviews hat gezeigt, dass Lernende mit Behinderungen vielfältige adaptive Strategien anwenden, um trotz Einschränkungen möglichst selbstständig am zunehmend digitalisierten Bildungsalltag teilhaben zu können. Unter adaptiven Strategien verstehen wir situativ einsetzbare Strategien zur Überwindung wahrgenommener Hindernisse, wobei der adaptive Prozess aus mehreren, sich zum Teil wiederholenden Schritten besteht, die von den Befragten mit Begriffen wie «versuchen», «herausfinden», «herumspielen» oder «ausprobieren» umschrieben werden. Zum Einsatz kommen technische Hilfsmittel, alternativen Lösungswege sowie persönliche und soziale Ressourcen. Adaptive Strategien stellen für Betroffenen oft einen Zusatzaufwanddar und die als hilfreich identifizierten Lösungen sind individuell. Digitale Medien können sowohl Teil der adaptiven Strategie sein als auch der Grund, warum eine adaptive Strategie erforderlich wird.

“Also, sagen wir […] die Räume, in denen die Module stattfinden, haben oft Nummern, die auf einem Bildschirm in der Höhe angezeigt werden, von dem ich nicht ablesen kann. In dem Fall, wenn ich nicht schon vorher die Information erhalten habe, wo wir sind, ich komme dort an und jetzt habe ich eine Methode rausgefunden, die sehr gut funktioniert. Ich mache mit dem Handy ein Foto des Bildschirms, ich vergrössere es und so kann ich es lesen und mich orientieren.” (19:13 ¶ 226, Lernende mit einer Sehbeeinträchtigung).

Unter Unterstützung verstehen wir Handlungen von Drittpersonen, welche den Lernenden mit Behinderungen helfen, im Bildungsalltag besser zurechtzukommen.

Aus den Interviews geht hervor, dass ein grosser Teil der Unterstützung zur Ermöglichung digitaler Teilhabe im informellen Rahmen stattfindet und typischerweise von Peers, Freunden, Bekannten oder Familienmitgliedern der Betroffenen geleistet wird. Teilweise kommt sie aber auch von Lehrpersonen, wenn diese Unterstützungsaufgaben übernehmen, die über ihren eigentlichen Auftrag hinausgehen. Demgegenüber stehen institutionalisierte Unterstützungsformen im Sinne von unterstützenden Massnahmen. Die Aussagen der Befragten zeigen, dass sich die verschiedenen Bildungsorganisationen hinsichtlich strukturell verankerter Prozesse zur Förderung von digitaler Teilhabe und Barrierefreiheit deutlich unterscheiden.

Ob und wie sich Lernende mit Behinderungen Hilfe holen und Unterstützung akzeptieren, findet in einem Spannungsfeld von spezifischen Bedürfnissen und dem Wunsch nach Autonomie statt. Dies ist insofern kein Widerspruch, als dass mit zunehmender (digitaler) Barrierefreiheit der individuelle Unterstützungsbedarf sinkt.

Mit Awareness ist das Bewusstsein gemeint, dass Menschen mit Behinderungen mit diversen Barrieren konfrontiert sind und nicht die gleichen Zugangschancen (im digitalen Bereich) haben. Dies wird auf der individuellen, der institutionellen als auch der überinstitutionellen Ebene thematisiert, wobei die Ebenen eng miteinander verwoben sind. Aus den Interviews geht deutlich hervor, dass sowohl Lernende mit Behinderungen wie auch Expert:innen davon ausgehen, dass eine gesteigerte Awareness auf allen drei Ebenen dazu führt, dass digitale Teilhabe besser gelingt.

Die Strategien der Betroffenen mit mangelnder Awareness umzugehen, lassen sich in zwei Kategorien unterscheiden: Strategien zur Änderung des Umfelds und Strategien zur Änderung des eigenen Verhaltens und der inneren Haltung. Es gibt Betroffene, welche gezielt dagegenhalten, indem sie Wissen vermitteln und aufklären.

“Ich war die Person, die den Weg bereitet hat und meiner Meinung nach sind sie jetzt bereit, gewillter, auch andere Personen, andere Studierende mit Behinderungen zuzulassen. Aufgrund der positiven Erfahrung, die sie mit mir gemacht haben.” (19:22 ¶ 374 Lernende mit einer Sehbeeinträchtigung)

“Die meisten Barrieren, welche die Leute haben, sind im Kopf und das sind die schwierigsten zu lösen.” (5:121 328 Lernende mit Tetraparese und spastischen Lähmungen)

Oftmals suchen die Betroffenen die Ursachen für eine gelingende oder nicht gelingende Inklusion aber auch bei sich selbst. Die ihnen entgegengebrachten Reaktionen führen dann dazu, dass sie beispielsweise «nicht auffallen wollen», dass sie «alles normal machen wollen», dass sie «keinen Extrazug fahren» und «selber ‘zschlag’ kommen» wollen, um nicht aufzufallen.

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